Komplexitätstreiber

Agilität verspricht, in komplexen Umgebungen das Durchführen von Projekten (oder Entwickeln von Produkten) handhabbarer zu gestalten. Daran ist sicher nichts falsch – und wenn sich eine:r auch noch im Klaren darüber ist, aus welchem Grund das Unterfangen komplex ist, kann noch differenzierter vorgegangen werden. Es gibt kein one-size-fits-all – verschiedene Problemstellungen verlangen unterschiedliche Maßnahmen.

Wenn wir uns diesem Thema nähern, kommen unweigerlich zwei Modelle auf die Bildfläche: Die Stacey “Matrix” und das Cynefin Framework. Ich finde, beide Modelle haben ihre Berechtigung und haben ihren Fixplatz in unserem Trainingsalltag. Lasst uns ganz kurz über beide Modelle schauen. Gerne erläutere ich, was ich an ihnen mag und was nicht.

Die Stacey Matrix

Wir haben in unseren Trainings und Workshops oft den Bedarf zu erklären, warum wir empirische Projektsteuerung gut finden, aber damit nicht alles andere abschaffen wollen. Wir wollen ein Bewusstsein schaffen, dass Unterschiede in den Komplexitäten der Problemstellungen unterschiedliche Verhaltensweisen und Führungsparadigmen erfordern. Die Betrachtung der verschiedenen Komplexitätsbereiche kann dabei hilfreich und öffnend für neue Gedanken sein.

Was gefällt mir an der Stacey Matrix?

Schön an der Stacey Matrix finde ich die räumliche Verortung der steigenden Komplexität. “Einfach” unten links – “Schwierig” oben rechts. Die Unterscheidung in horizontal und vertikal legt nahe, dass es mehrere Faktoren sind, die etwas “schwierig” machen. Das regt zum Reflektieren an: Wie ist das eigentlich in unserem Projekt? Wo steht es? Was macht es komplex?

Was stört mich?

Störend daran finde ich die Übersimplifizierung in nur zwei Dimensionen: “Was?” und “Wie?”. Das ergibt manchmal zeitraubende und spitzfindige Diskussionen, die keinen erkennbaren Wert stiften.

Das Cynefin Framework

Das Cynefin Framework teilt in die Quadranten: Offensichtlich, Kompliziert, Komplex und Chaotisch. Außerdem gibt es in der Mitte noch den Bereich der Konfusion.

Es liefert Mehrwert über Aussagen zum Zusammenhang von Ursache und Wirkung, Handlungsmustern und Führungsverhalten in den entsprechenden Feldern. Außerdem liefert es Anlass für herrlich nerdige Streitgespräche zwischen Coaches zum Thema: ”Was ist eigentlich Entropie?” und “Wie spricht man den Namen Cynefin im Walisischen korrekt aus?”. Das ist zwar erfrischend, aber alles in allem finde ich das Modell für meine Zwecke meist zu akademisch. Ich befürchte damit die Teilnehmer:innen zu überfordern, ohne nutzbaren Mehrwert zu liefern.

Unser Erklärmodell

Um nicht immer beide Modelle präsentieren zu müssen und unseren internen Diskurs zu beenden, welches denn nun das hilfreichere Tool ist, haben Gregor und ich unsere eigene Darstellung gefunden. Es vereint Elemente beider Modelle, Stacey und Cynefin: Die örtliche Anordnung von “Offensichtlich” links unten nach “Komplex” rechts oben. Chaotisch lassen wir weg, da dieser kaum Nutzen bringt. Je nach Zielgruppe reichern wir die Bereiche mit Beispielen, Eigenschaften, Handlungsmustern und Führungsaufgaben in den einzelnen Bereichen an.

Anordnung der Komplexitätsbereiche – Offensichtlich bis Komplex

Anders als in der Stacey Matrix erklären wir das Entstehen von Komplexität (oder Chaos) aber nicht auf zwei Achsen, sondern als Überlagerung von mehreren unabhängigen Komplexitätstreibern. Die Komplexitätstreiber sind also Zugkräfte, die aus einer einfachen Tätigkeit eine kompliziertere oder sogar komplexe machen. Je nach Intensität und Anzahl der Treiber. Dabei wollen wir bewusst unscharf bleiben, da ein Messen der Komplexität keinen Sinn ergibt. Was komplex ist oder nicht wird am Ende immer subjektives Empfinden bleiben, da es stark von der eigenen Erfahrung in einem Themengebiet abhängt. Für Anfänger:innen mag es komplex wirken, für erfahrene Seniorinnen höchstens kompliziert.

Kurzretrospektive - wenn mal wenig Zeit ist

Wir wollen erreichen, dass sich die Teilnehmerinnen einmal darüber Gedanken machen, dass es:

  1. verschiedene Naturen von Tätigkeiten / Problemstellungen / Projekten gibt,
  2. in diesen unterschiedlichen Bereichen verschiedene Handlungsmuster und Führungsparadigem zielführend sind und
  3. die unterschiedlichen Bereiche durch verschiedene, sich überlagernde, Komplexitätstreiber erzeugt werden.

Die Komplexitätstreiber

Im Folgenden sind einige Komplexitätstreiber beschrieben. Diese Liste erhebt keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind vielmehr nur jene aufgezählt, die uns im Laufe unserer Trainings aufgefallen sind und spiegeln somit unsere persönlichen Erfahrungen wider.

Was? – Unklarheit in den Anforderungen an die Lösung

Es kann sein, dass es ein Warum gibt – ein Problem, das es zu lösen gilt. Allein, was eine Lösung sein kann, ist noch nicht gänzlich bekannt. Die Innovation, die das Bedürfnis stillt, ist noch nicht erfunden oder noch vage. Es kann auch sein, dass der Umfang der Lösung noch nicht definiert ist. Wollen wir alles oder zunächst nur einen Teil?

Was? – Uneinigkeit zu den Anforderungen an die Lösung

Uneinigkeit ist eine Spezialform der Unklarheit. Es kann durchaus sein, dass unter den Mitgliedern eines Teams eine hohe subjektive Klarheit herrscht. Jedes Teammitglied kann für sich sehr eindeutig sagen, was gerade wichtig ist und warum das auch für das Team wichtig ist. Ich habe dazu einmal ein Experiment in einem Softwareentwicklungsteam gemacht. Die Entwickler:innen hatten schon über eine langen Zeitraum Seite an Seite, in einem Raum am gleichen Produkt zusammengearbeitet. Ich fragte die Personen unabhängig voneinander, welches Ziel sie gerade verfolgen und warum das gerade jetzt wichtig sei. Die Antworten waren in ihrer Unterschiedlichkeit überraschend bis verstörend.

Kurzretrospektive - wenn mal wenig Zeit ist

Änderungsrate der Anforderungen

Der Markt wird schneller, nicht nur gefühlt. Time-to-Market und damit die notwendige Entwicklungsgeschwindigkeit wird immer wichtiger. Das übt nicht nur Druck auf die Unternehmen aus, sondern treibt auch die Komplexität der Entwicklungsprojekte nach oben.

Wie? – Unklarheit in der Technologie

Für manche Lösungen ist die Technologie klar, welche zu dieser Lösung führen wird. Welches Werkzeug soll zur Anwendung kommen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen? Das kann zum Beispiel die Wahl der geeigneten Programmiersprache sein.

Oft ist aber schon diese Auswahl nicht eindeutig bestimmbar. Oft kann man vorher die Auswirkungen dieser Entscheidung noch nicht absehen. Es muss mehr Wissen aufgebaut werden, um all die zur Verfügung stehenden Optionen abwägen zu können.

Und ist die Wahl der Technologie getroffen, ist noch immer nicht klar, wie damit umgegangen wird. Wenn die Programmiersprache ausgewählt ist, heißt das noch nicht, dass die Systemarchitektur, Designmuster, Klassenhierarchien, etc. schon bestimmt sind.

Wie? – Unklarheit im Setting

Abgesehen von der Technologie gibt es bei größeren Vorhaben auch Fragen bezüglich der Sozialformen und der Zusammenarbeit. Wer ist der richtige Personenkreis zur Umsetzung des gewünschten Zieles? Wie soll die Gruppe strukturiert sein? Wie funktioniert die Zusammenarbeit? Wann und wie oft soll es Meetings geben? Was soll da die Agenda sein?

Uneinigkeit im Wie

Neben dem “Noch-nicht-wissen”, oder “Unsicher-sein” wie es in den beiden vorigen Kapiteln beschrieben, gibt es hier auch wieder den Fall der subjektiven Klarheit, aber kollektiven Uneinigkeit. Mehrere Beteiligte haben für sich ihre persönliche Überzeugung, wie die Lösung zu erstellen sei, leider sind die Meinungen nicht überlappend. Ein Expert:innenstreit, der das Vorankommen der Gruppe lähmt und zu persönlichen Konflikten anwachsen kann.

Diese “Wie” könnte man, so wie oben, natürlich wieder in unterschiedliche Ausprägungen aufspalten. Aber ich denke, das bringt an dieser Stelle keinen Mehrwert.

Änderungsrate im Wie

Nachdem die Änderungsrate des Marktes schneller wird, wird auch der Markt für bereitgestellte Technologien schneller. Das hat Auswirkungen auf die Benutzer:innen der Werkzeuge – wie zum Beispiel jener Softwareentwickler:innen, die neben den Änderungen in den Anforderungen auch die steigenden Versionsnummern der Programmiersprachen in ihrer Arbeit berücksichtigen müssen.

Mit sich schnell ändernden Technologien zu arbeiten macht Spaß. Es ist herausfordernd, was die Motivation steigert, und man bleibt life-long-learner. Wenn aber alle learner:innen der neuen Technologien sind, wo sind dann die Meister:innen, die Ruhe und Klarheit in ein Projekt bringen?

Soziale Systeme

Innovationen werden nicht mehr von einzelnen genialen Wissenschaftler:innen im Stillen gemacht. Innovationen und Entwicklungen sind ein Teamsport. Eine abgestimmte Gruppe arbeitet miteinander an einer Lösung zu einem Problem.

Komplexe Systeme haben die Eigenschaft, dass sie bei gleichem Input nicht immer den gleichen Output liefern. Genau wie wir Menschen auch. Was heute nett ist kann morgen nervig sein und die Tagesform beeinflusst die Performance zu einem merklichen Teil. Dass Systeme, die aus solchen seltsamen Wesen bestehen – also Teams – per se schon komplex sind, sollte nicht verwundern.

Skalierungseffekte

Skalierungseffekte, also die Größe eines Systems, beeinflussen die Komplexität zu einem großen Teil. Was im Kleinen simpel ist ist ab einer bestimmten Größe komplex. Ob die Komplexität dabei linear ansteigt oder aber ab einer bestimmten Schwelle sprunghaft ansteigt, hängt von der Natur der Aufgabe ab.

Und jetzt du!

Findest du die Benennung der Komplexitätstreiber hilfreich oder verwirren sie eher? Welche Komplexitätstreiber kennst du besonders gut? Welche fehlen in der Auflistung?

Und worauf ich am meisten gespannt bin: Welche Methoden fallen dir ein, um den verschiedenen Komplexitätstreibern beizukommen?

Hinterlasse bitte gerne einen Kommentar – das würde mich freuen!

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