Dieser Blog-Artikel ist der vierte und letzte Teil einer Serie über agile HR-Praktiken.
- Im ersten Teil habe ich versucht, agile HR-Praktiken zu motivieren, und die erste agile HR-Praktik beschrieben: Recruiting durch das Team.
- Im zweiten Teil habe ich die zweite agile HR-Praktik vorgestellt: Planung der Weiterbildung im Team.
- Der dritte Teil befasst sich mit Praktik #3: Regelmäßige Peer Reviews im Team statt Mitarbeitergespräch.
- In diesem Artikel stelle ich Praktik #4 vor: Alternative Bonussysteme.
Für eine Übersicht über alle vorgestellten Praktiken lesen Sie bitte den ersten Teil.
Agile HR-Praktik #4: Alternative Bonussysteme
Tja, Bonussysteme. Eigentlich wissen wir ja mittlerweile sehr genau und wissenschaftlich gut fundiert, dass Bonussysteme für geistig anspruchsvolle Arbeit ungeeignet, ja sogar kontraproduktiv sind. Und Softwareentwicklung als typische Wissensarbeit kann man wohl guten Gewissens unter geistig anspruchsvolle Arbeit einreihen. Eine empfehlenswerte Vertiefung zu diesem Thema bietet etwa das ausgezeichnete und sehr gut lesbare Buch Drive von Daniel Pink; eine zehnminütige Zusammenfassung dieses Buches gibt es als Animationsvideo).
Der zusammenfassende Ratschlag von Daniel Pink zum Thema Gehaltsbildung lautet: „Take the issue of money off the table“. Sorge also dafür, dass das Thema der Gehaltshöhe aus den Köpfen der Mitarbeiter verschwindet. Und wie geht das? Zahle faire Gehälter, die dem Markt entsprechen, dann wird der Mitarbeiter nicht aus monetären Gründen woanders hinwechseln.
Das wäre also (auch aus meiner Sicht) das Ziel. Zwei Ideen für den Weg dahin möchte ich hier vorstellen:
- Peer-getriebene Bonussysteme und
- Differenzierung im Gehaltssystem auf Basis von ausgeübten Rollen
Peer-getriebene Bonussysteme
Wenn ein bestehendes Bonussystem nicht so schnell aus dem Unternehmen verabschiedet werden kann, könnte man in einem ersten Schritt zumindest die Bewertungskriterien für die Vergabe von Boni verändern. Und zwar weg von individuellen, vom Vorgesetzten festgelegten Kriterien hin zu Kriterien, die von jenen Kollegen bestimmt werden, mit denen der Mitarbeiter zusammenarbeitet. Das hat zwei wesentliche Vorteile:
- Der Mitarbeiter wird von jenen beurteilt, die am nächsten mit ihm zusammenarbeiten, und die ihn daher auch am besten einschätzen können (vergleiche die in Teil 3 der Artikelserie vorgestellte Skizze für Peer-Reviews).
- Die Bewertung orientiert sich nicht ausschließlich am individuellen Verhalten des Mitarbeiters, sondern auch sehr maßgeblich am Verhalten seinem Team gegenüber. Die Fähigkeit im Team konstruktiv zu arbeiten, fließt damit stark in die Bewertung für den Bonus ein.
Differenzierung nach ausgeübten Rollen
Wie kommt man nun aber zu einer fairen Entlohnung der Mitarbeiter (im Sinne von Pinks Zusammenfassung „Take the issue of money off the table“)? Soll man einfach alle gleich bezahlen?
Ein sehr interessanter Ansatz wird von Brian Robertson in seinem Buch Holocracy. The New Management System for a Rapidly Changing World beschrieben. Er nennt ihn Badge-based Compensation.
Hier stelle ich eine sehr kurze Zusammenfassung vor:
- Ein wesentliches Merkmal von Holacracy als Management-System ist die Definition von Rollen. Eine Rolle (z.B. Wartung und Weiterentwicklung des Continuous Integration Systems) unterscheidet sich demnach stark von einer (in Holacracy nicht verwendeten) Job Description (z.B. Senior Software Developer).
- Einem Mitarbeiter können in unterschiedlichen Kontexten (z.B. Software Development Team oder Qualitätssicherungszirkel) unterschiedliche Rollen (z.B. Weiterentwicklung des CI-Systems oder Bewertung eingesetzter Werkzeuge für Softwarequalität) zugeordnet werden, Rollen sind also nicht an eine fixe Person gebunden.
- Für Rollen werden anlassbezogen Badges definiert, die für Fähigkeiten, Talente oder Wissensgebiete stehen, die für die Ausübung einer Rolle notwendig sind (z.B. fortgeschrittene Kenntnisse des eingesetzten CI-Systems oder eine Zertifizierung als Tester). Die Definition unterliegt einer laufenden Anpassung, d.h. Badges können auch wieder von einer Rolle entkoppelt werden, wenn sie für die Rolle nicht mehr als notwendig erachtet werden.
- Diese Badges sind mit einem Wert verbunden (das kann z.B. über den Marktwert geschehen: Wie viel würde es das Unternehmen kosten, diese Fähigkeit für den Mitarbeiter zu erwerben?).
- Der Wert aller Badges, die ein Mitarbeiter über die von ihm ausgeübten Rollen gerade besitzt, ist ausschlaggebend für die Bestimmung seines Gehalts. Der Mechanismus der Berechnung ist für alle im Unternehmen nachvollziehbar.
- Mit der Definition und Bewertung von Badges sind unterschiedliche Personen im Unternehmen befasst. Damit kommt man weg von der Festlegung des Gehalts durch eine oder wenige Personen.
Und was ist mit HR?
Wie wären denn die Auswirkungen für die zentrale Servicefunktion HR, wenn man die in dieser Artikel-Serie vorgestellten agilen HR-Praktiken einsetzen würde? Braucht man HR für Aufgaben wie Recruiting, Weiterbildung, Mitarbeitergespräche überhaupt noch?
Ich denke schon. Es braucht gut ausgebildete Leute, um die Teams bei der Ausübung der vorgestellten agilen HR-Praktiken zu unterstützen, und ihnen die Übernahme der damit verbundenen Verantwortung zu ermöglichen. Das Bild eines HR-Mitarbeiters würde sich also stark in Richtung einer Coaching-Rolle verändern.
Fazit
Agile Teams stoßen früher oder später an die Grenzen ihrer Weiterentwicklung. Ein Grund dafür sind klassische Praktiken im Rest des Unternehmens, die sich nicht mit den zentralen Leitprinzipien von Agilität vertragen, beispielsweise mit der Zusammenarbeit in sich selbst organisierenden Teams. Gerade klassische HR-Praktiken sind ein gutes Beispiel für diese Inkompatibilität.
Dieser Artikel zeigt für die typischen HR-Themen Recruiting, Weiterbildung, Leistungsbeurteilung und Gehaltssysteme spannende und praxiserprobte alternative Ansätze, die zu den agilen Prinzipien passen. Gemeinsam ist allen Ansätzen, dass sie die Verantwortung weg von einer Zentralstelle hinein in die Teams verlagern. Das bedeutet jedoch nicht, dass HR bei der Erfüllung dieser Aufgaben keine Rolle mehr spielt. Jedoch verändert sich ihre Rolle stark in Richtung Unterstützung und Coaching.
Wie beurteilen Sie die vorgestellten Ansätze? Haben Sie Erfahrung mit agilen Ansätzen im Bereich HR? Ich freue mich über Rückmeldungen und Anregungen, schreiben Sie einen Kommentar zu diesem Artikel!
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2 Kommentare
Wenn man (noch) kein so moralisch gefestigtes Team hat, wie verhindert man, dass sich alle Teammitglieder sehr gut bewerten – gerade wenn Boni daran hängen?
Hallo Jonas,
ich gehe davon aus, dass ein Team in einer gesunden Organisationsumgebung dieses Verhalten nicht zeigt. Wenn doch, wäre es aus meiner Sicht ein sehr deutliches Signal, dass die Organisation ein Kulturproblem hat.
Du könntest natürlich auch versuchen, Bewertungen von außerhalb des Teams mit einfließen zu lassen. Beispielsweise in dem sich Teams, die miteinander Kontakt haben, auch gegenseitig bewerten, oder in dem Du die Kunden der Teams (was auch immer in Deinem Kontext „Kunde“ bedeutet) mit bewerten lässt. Dann solltest Du solche Manipulationen erkennen können.
Liebe Grüße, Gregor
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