Zwei Sätze höre ich im Zusammenhang mit Fehlern in Organisationen immer wieder. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein, lautet doch der erste “Fehler sind auf jeden Fall strikt zu vermeiden!” und der zweite “Lasst uns Fehler feiern!”. Wie kann es zu diesen widersprüchlichen Statements kommen? Welcher Satz ist richtig?
Wahrscheinlich wirst du jetzt sagen: “Es kommt wohl darauf an!” Diese Vermutung hatte ich auch, und ich wollte mich vertiefend mit dem Thema Fehler machen auseinandersetzen. Dabei bin ich auf ein Ende 2023 erschienenes Buch gestoßen: Right Kind of Wrong: The Science of Failing Well der US-amerikanischen Forscherin und Harvard Business School Professorin Amy Edmondson. Ich hatte von ihr schon das letzte Buch zum Thema psychologische Sicherheit (The Fearless Organization) mit großer Freude und viel Erkenntnisgewinn gelesen – deshalb hatte ich große Erwartungen an dieses neue Buch.
In diesem Blog-Beitrag gebe ich dir einen Überblick über das Buch und teile mit dir meine größten Take-Aways aus der Lektüre.
Das Buch im Überblick
Die Unterscheidung zwischen Fehler und Scheitern
Bereits in der Einleitung findet sich für mich eine erste Perle, nämlich die von Edmondson vorgenommene Unterscheidung der Begriffe error bzw. mistake und failure, die ich für mich mit Fehler bzw. Irrtum und Scheitern (auch Misslingen würde gut passen) übersetzt habe:
- Scheitern (oder auch Misslingen) ist ein Ergebnis, das stark vom gewünschten Resultat abweicht. Das kann ein kleines Scheitern sein (z.B. ein zu stark gegartes Steak, das schmeckt wie eine Schuhsohle oder ein großes (z.B. ein Öltanker, der in Küstennähe auf Grund läuft und eine Ölpest verursacht).
- Ein Fehler (oder auch Irrtum) ist das unbeabsichtigte Abweichen von vorgegebenen Standards wie Regeln, Verfahren oder Richtlinien. Er kann geringe Konsequenzen haben (z.B. wenn du die Frischmilch in den Vorratsschrank statt in den Kühlschrank gibst) oder auch ernsthafte (z.B. wenn einem Patienten unbeabsichtigt das linke anstelle des rechten Knies operiert wird).
Mit dieser Unterscheidung kommen wir schon auf eine erste Spur, was den in der Einleitung thematisierten Widerspruch betrifft: Der erste Satz könnte eher etwas mit Fehlern zu tun haben, der zweite wohl eher nicht.
Drei Arten des Scheiterns
Im ersten Abschnitt des Buchs führt Edmondson eine weitere, für mich sehr erhellende Unterscheidung ein. Sie definiert drei Arten des Scheiterns, nämlich basic failure, complex failure und intelligent failure. Ich habe die Begriffe für mich mit grundlegendes Scheitern, komplexes Scheitern und intelligentes Scheitern übersetzt.
Diese Unterscheidung finde ich deshalb so essentiell, weil sich herausstellt, dass der Zugang zu jeder dieser drei Arten des Scheiterns sich stark voneinander unterscheidet. Mit Zugang meine ich beispielsweise Antworten auf folgende Fragen: Ist es erstrebenswert, diese Art des Scheiterns zu vermeiden? Falls ja, wie kann ich eine solche Art des Scheiterns weniger wahrscheinlich machen? Was kann ich aus einem Scheitern dieser Art lernen?
Intelligentes Scheitern
Intelligentes Scheitern kann und soll nicht vermieden werden. Ganz im Gegenteil: Es ist notwendig, um auf unbekanntem Gebiet Fortschritte zu erzielen.
Ein plakatives Beispiel ist das wissenschaftliche Experiment. Eine Forscherin formuliert eine Forschungsfrage, entwickelt Hypothesen zu dieser Forschungsfrage und designt dann Experimente, um diese Hypothesen entweder zu untermauern oder zu falsifizieren. Das Experiment ist dann gut designt, wenn es eine hohe Wahrscheinlichkeit hat zu scheitern.
Zwei Begriffe tauchen in diesem Zusammenhang auf: Unsicherheit und Neuartigkeit. Je größer die Unsicherheit oder die Neuartigkeit auf dem Gebiet, auf dem ich mich bewege, desto notwendiger wird fortlaufendes intelligentes Scheitern sein, um neue Erkenntnisse zu erlangen und so die Unsicherheiten Stück für Stück zu reduzieren.
Aus intelligentem Scheitern wird also ein hoher Erkenntnisgewinn gezogen. Gelernt werden sollte hier also über den Forschungsgegenstand selbst.
Als Vertreter der agilen Zunft erinnert mich das natürlich stark an ein wesentliches Grundprinzip von agilem Arbeiten: Inspect & Adapt: Unsicherheiten reduzieren.
Grundlegendes Scheitern
Grundlegendes Scheitern wird durch Fehler, Irrtümer, Missgeschicke oder Unachtsamkeiten verursacht.
Als Beispiel eines grundlegenden Scheiterns mit schwerwiegenden Konsequenzen führt Edmondson einen Vorfall bei der amerikanischen Großbank Citibank an: Dort ist es passiert, dass drei Angestellte unter sehr unglücklichen Umständen (u.a. schlecht designte Software, Unaufmerksamkeit des Supervisors) statt beabsichtigter 8 Millionen Dollar insgesamt 900 Millionen Dollar an mehrere Kreditnehmer überwiesen haben. (Cityibank ist es übrigens trotz eines angestrebten Gerichtsverfahrens nicht gelungen, die fehlerhaft überwiesenen Beträge zurückzubekommen.)
Es sollte möglichst vermieden werden. Wenn wir auf die oben gegebene Definition eines Fehlers bzw. Irrtum schauen, erschließen sich auch einfache Wege, wie solches Scheitern vermieden werden kann, beispielsweise durch
- den achtsamen Umgang mit Standards, etwa durch die Verwendung von Checklisten oder durch Anwendung des Vieraugenprinzips, oder
- einen guten Zugang zu Wissen über diese Standards, etwa über einfach zugängliche Dokumentation oder regelmäßige Schulungen.
Aus grundlegendem Scheitern sollten wir lernen, wie in Zukunft eine ähnliche Situation vermieden werden kann, beispielsweise indem Prozesse angepasst werden oder die Achtsamkeit im Umgang mit den Standards erhöht wird.
Komplexes Scheitern
Diese Art des Scheiterns entsteht – wie der Name schon suggeriert – in unserer modernen Umwelt, die von hoher Komplexität geprägt ist. Ein Zeichen von Komplexität ist, dass es starke Abhängigkeiten zwischen einzelnen Teilen eines Systems gibt, die in ihren Wechselwirkungen kaum zu überblicken sind.
Charakteristisch für diese Art des Scheiterns ist, dass es immer mehr als eine Ursache dafür gibt. Oft sind es mehrere Gründe, die zusammenwirken und garniert mit einer Portion Pech zum Scheitern führen.
Als ein Beispiel für ein solches Scheitern wird im Buch ein Schiffsunglück eines Öltankers vor der britischen Küste im Jahr 1967 angegeben, das zu einer katastrophalen Ölpest führte. Die nachträglich erfolgte Aufarbeitung des Unglücks hat ein Zusammenwirken einer Vielzahl von kleineren Problemen festgestellt, die letztendlich zur Katastrophe geführt haben: Es gab Zeitdruck, das Schiff musste zur Löschung seiner großen Ladung unter Berücksichtigung der Gezeiten exakt zu einer vorgegebenen Zeit im Hafen ankommen. Das Handbuch für die Navigation in den durchfahrenen Küstengewässern fehlte an Board, so musste sich der Kapitän ausschließlich auf seine Erfahrung verlassen. Durch unerwartete Strömungen kam das Schiff in der Nacht deutlich vom Kurs ab, entgegen einer zuvor getroffenen Vereinbarung hatte der Erste Offizier den Kapitän nicht geweckt, sondern eigenmächtig den Kurs geändert und den Kapitän erst am nächsten Morgen davon informiert. Um trotzdem rechtzeitig im Hafen anzukommen, entschied sich der Kapitän für eine gefährlichere Route näher an einem gefährlichen Kap. Auf seiner weiteren Fahrt musste das Schiff noch zwei Fischkuttern ausweichen, die plötzlich aus dem Nebel auftauchten.
Der für Edmondson wesentliche Ansatz zur Vermeidung von komplexem Scheitern ist es, achtsam zu sein für kleine Probleme, die sich zeigen. Diese sollten nämlich schnell bearbeitet und gelöst werden, bevor sie sich fortpflanzen und dann außer Kontrolle geraten.
Fähigkeiten für einen guten Umgang mit Scheitern
Im zweiten Abschnitt des Buchs, den sie practicing the science of failing well nennt, beschreibt Edmondson drei Fähigkeiten, die wir für einen produktiven Umgang mit den unterschiedlichen Arten des Scheiterns kultivieren sollten.
Ich nenne hier zunächst wieder die von ihr im Englischen geschöpften Begriffe, da sie für mich schwierig gut ins Deutsche zu übersetzen sind: self awareness, situation awareness und system awareness.
Selbstwahrnehmung
Durch achtsame Selbstbeobachtung und regelmäßige Selbstreflexion können wir herausfinden, unter welchen Umständen unsere “Beziehung” zum Scheitern eine schwierige ist. Wenn wir das idealerweise in der Situation erkennen, können wir gegensteuern.
Edmondson erwähnt in diesem Kapitel etwa eine anscheinend grundsätzlich bei uns Menschen angelegte Tendenz, unwillkommene Wahrheiten auszublenden oder wegzudrücken.
Weiters geht sie etwa auf Angst oder auch Scham ein, ein geschehenes Scheitern transparent zu machen. Es geht dabei oft um die Sorge, sich verletzlich zu zeigen. Gerade durch diese Transparenz würde erst die Möglichkeit für mich und meine Umwelt entstehen, aus dem Scheitern lernen zu können.
Abschließend stellt sie mit Stop. Challenge. Choose. ein kleines Werkzeug vor, das verwendet werden kann, wenn durch die laufende Selbstbeobachtung zu erkennen ist, dass man gerade einem nicht hilfreichen Muster folgt:
- Stop: Wenn du das Muster erkennst, halte inne. Frage dich, warum du diesem Muster folgst!
- Challenge: Frage dich, ob dein Verhalten gerade wirklich hilfreich ist, oder ob es nicht andere, adäquatere Möglichkeiten gibt, zu reagieren. Vielleicht entdeckst du auch, dass du gerade einem alten Glaubenssatz folgst: hinterfrage auch ihn!
- Choose: Wähle nun bewusst aus den Optionen, die du dir erarbeitet hast. Möglicherweise entscheidest du dich für eine andere als jene, die dir dein Autopilot vorgeschlagen hat?
Situationsbewusstsein
In diesem Kapitel geht es darum, ein Bewusstsein für die konkrete Situation zu entwickeln. Edmondson schlägt zunächst als Unterstützung wieder drei archetypische Kontexte vor, mit denen man die konkrete Situation vergleichen könnte (consistent, variable, novel context):
- Beständig: In diesem Kontext werden repetitive Tätigkeiten in einer stets gleichlautenden Abfolge ausgeführt. Die Frage, die Edmondson in diesem Zusammenhang stellt, lautet: “Can you do it in your sleep?”
- Veränderlich: Hier werden Tätigkeiten durchgeführt, die in einem bekannten Spektrum von Expertise zu Hause sind, die sich aber von Fall zu Fall in einigen Details unterscheiden, die auf die konkrete Situation anzupassen sind. Im Wesentlichen weiß man jedoch, was zu tun ist.
- Neuartig: In diesem Feld gibt es kein gesichertes Wissen dazu, was zu tun ist. Vielmehr führt der einzige Weg zur Erkenntnis über das kleinschrittige Verproben von Ideen.
Sehr hilfreich finde ich drei typische Quellen für die Fehleinschätzung einer Situation in Bezug auf diese Archetypen, die Edmondson nennt:
- Das Unterschätzen von Gefahren, die in einer Situation auftreten können, die besonders den beständigen Kontext betrifft;
- das Unterschätzen der Variabilität zwischen ähnlichen Situationen wie etwa unreflektiertes Übertragen einer Patentlösung auf eine Situation und
- das Unterschätzen der Neuartigkeit einer Situation, oft hervorgerufen durch das Unterschätzen der Komplexität einer Problemstellung.
Edmundson beschließt dieses Kapitel mit einer Zuordnung der drei Arten des Scheiterns zu den drei archetypischen Kontexten. Es gibt hier naheliegender Weise drei Hauptzuordnungen: basic/consistent, complex/variable und intelligent/novel).Sie gibt jedoch auch Beispiele für seltener auftretende Kombinationen, etwa das grundlegende Scheitern in einem neuartigen Kontext, wie etwa das Verwenden einer falschen Chemikalie in einem Laborexperiment.
Grafik aus Amy Edmondson: Right Kind of Wrong. Atria Books, 2023. Die darin enthaltenen Beispiele erschließen sich natürlich noch besser, wenn du das Buch selbst liest! 🙂
Systemverständnis
In diesem Kapitel taucht Edmondson ein in die Welt des Systemdenkens.
Sie stellt darin die Hypothese auf, dass wir in unserem Streben nach Komplexitätsreduktion (um Komplexität handhabbar zu machen) meist einen zu kleinen Ausschnitt der Realität betrachten, und dass wir dadurch eine ganze Menge von möglicherweise ungünstigen Konsequenzen unserer Entscheidungen und Handlungen nicht bewusst kriegen.
Zwei Fragen können helfen, den eventuell zu kleinen Ausschnitt der Realität zu vergrößern:
- Wer und was wird sonst noch von dieser Entscheidung oder Handlung betroffen sein?
- Welche zusätzlichen Folgen könnte diese Entscheidung oder Handlung in Zukunft haben?
Bei mir ist bei der Auseinandersetzung mit diesem Kapitel gleich der Begriff der lokalen Optimierung (oder der lokalen Rationalität) untergekommen: Wir optimieren in unseren Organisationen unser Vorgehen, unsere Abläufe sehr oft mit einem lokalen Fokus (z.B. innerhalb eines Software-Entwicklungsteams, innerhalb der Finanzabteilung). Diese Optimierungen führen jedoch auf Ebene der Gesamtorganisation betrachtet nicht zu einer Optimierung, sondern zu einer Verschlechterung.
Als fehlbare menschliche Wesen wachsen
Amy Edmondson schließt ihr Buch mit Betrachtungen darüber, wie wir einen guten Umgang mit unserem unvermeidlichen Scheitern lernen und pflegen können, sodass wir uns beständig weiterentwickeln.
Sie entwickelt darin keinen großen Masterplan, sondern präsentiert eine Vielzahl von Ideen und Ratschlägen, unterteilt in
- Praktiken für den produktiven persönlichen Umgang mit Scheitern, z.B. Hartnäckigkeit, regelmäßige Reflexion, das Übernehmen von Verantwortung und das Aussprechen von Entschuldigungen) und
- Praktiken für die Gestaltung einer gesunden Kultur des Scheiterns in einer Organisation, z.B. das Lenken der Aufmerksamkeit auf den Kontext, in dem sich eine Situation abspielt; als Führungskraft durch vorbildhaftes Handeln dazu ermutigen, eigenes Scheitern in der Organisation zu teilen; mutige Experimente, die schiefgegangen sind, vor den Vorhang zu heben und zu würdigen.
Meine Take-Aways aus dem Buch
Wie du wahrscheinlich schon aus der Länge dieses Blog-Artikels ableiten kannst, bin ich sehr angetan von dem, was Amy Edmundson da zum Thema Fehlermachen und Scheitern zusammengetragen hat. Ich habe durch das Lesen vor allem folgende Nuggets geschürft:
- die Unterscheidung zwischen den Begriffen Fehler und Scheitern;
- die drei Archetypen des grundlegenden, komplexen und intelligenten Scheiterns mit den sehr unterschiedlichen Herausforderungen im Bezug auf den Umgang mit ihnen;
- die drei kultivierbaren Fähigkeiten der Selbstwahrnehmung, des Situationsbewusstseins und des Systemverständnisses in der Navigation des Scheiterns;
- zwei von Edmundson vorgestellte Übungen, die ich ganz sicher in meinen Workshops einbauen werde: Das Electric Maze Game zur Bewusstseinsbildung darüber, dass es Problemstellungen gibt, in denen man ausschließlich durch (intelligentes) Scheitern Fortschritte erzielt sowie das MIT Beer Distribution Game als wunderbare Übung zur Erklärung des Phänomens der lokalen Optimierung / lokalen Rationalität.
Besonders gefreut habe ich mich darüber, dass dieses Buch so viele Geschichten und plakative, echte Beispiele aus dem Leben von Menschen und Organisationen enthält, die die vorgestellten Konzepte und Taxonomien sehr anschaulich machen.
Solltest du das Buch selber lesen wollen, deine lokale Buchhandlung freut sich bestimmt über deine Bestellung.
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