Wenn wir das Wort Agil verwenden, geben wir immer einen Hinweis mit: Es gibt keine allgemein gültige Definition des Wortes – keinen Agile-Dachverband, der das Wort definiert und abgrenzt, keine ISO-Norm, in der du nachschlagen könntest. Die Bedeutungen, die dem Wort Agile oder agiles Arbeiten gegeben werden, entstehen in den jeweiligen Communities. Sie sind dabei so vielfältig wie die Communitys selbst. Daher sind wir der Meinung, es lohnt sich, sich vor der Verwendung mit der Bedeutung des Wortes auseinanderzusetzen. Das haben wir getan und dabei sind unsere acht agilen Prinzipien entstanden, die wir als unsere Bedeutung des Wortes Agile verstehen. Man könnte also sagen, Agile bedeutet für uns, das Bestreben diesen Prinzipien zu folgen.
Die Arbeit mit Prinzipien ist natürlich immer so eine Sache: Sind es zu wenige oder zu ungenaue Formulierungen, kann alles mögliche in sie hineininterpretiert werden, was wenig hilfreich ist. Definieren wir zu viel und zu genau, verliert der Satz an Prinzipien möglicherweise seine Anschlussfähigkeit an verschiedene Kontexte – auch nicht gut.
Also waren wir sehr zurückhaltend und haben geprüft und abgewogen, bevor wir zwei weiteren Punkten den Zugang zu den bestehenden acht Prinzipien gewährt haben. Aber hier sind sie nun – Tusch und Vorhang auf – die Neuzugänge: Prinzip 9 und Prinzip 10:
Prinzip 9: Fraktale Planung
Zielbilder auf allen zeitlichen Horizonten
Was bitteschön bedeutet “fraktal”? Neben einer genauen mathematischen Definition kann gesagt werden, “fraktal” bedeutet, dass sich ein Muster in verschiedenen Skalen immer wieder wiederholt. In unserem Fall geht es um den »Plan-Do-Check-Act (Inspect and Adapt) – Zyklus«. Dieser wird auf verschiedenen Zeithorizonten überlagert durchgeführt.
Agile Organisationen haben ein langfristiges Zielbild. Dieses darf ruhig etwas abgehoben wirken. Darum stellen wir es in unseren Grafiken gerne auch als Stern dar. Der Nordstern steht ja auch hoch am Himmel und sorgt, gut sichtbar, für Orientierung. Üblicherweise tragen diese Nordsterne Namen wie Vision, Produktvision, strategisches Ziel oder einfach nur Projektziel. Gerne dürfen diese auch von etwas übergeordnetem abgeleitet sein. Einem Purpose (Daseinszweck) oder einer Mission zum Beispiel. Jedenfalls sollten diese Ziele gut sichtbar und halbwegs stabil sein. Das bedeutet, jede kennt und versteht sie und sie werden nicht als beliebig änderbar und neu interpretierbar erlebt.
Gehen wir mal davon aus, wir haben also ein inspirierendes, hochfliegendes Ziel, das alle kennen. Fängt das agile Team jetzt mit der Umsetzung an? Nein! Tut es nicht.
Diese Ziele werden zuerst heruntergebrochen auf Etappen – möglicherweise Quartalsziele. Ob diese nun OKRs (Objectives and Key Results) oder sonstwie heißen, ist dabei nicht so relevant. Wichtig ist vielmehr, dass es sich hierbei schon um konkrete und messbare Ziele handelt und nach Ablauf des Zeithorizontes überprüft wird, ob das Ziel erreicht wurde und ggfs. das weitere Vorgehen angepasst wird (Inspect and Adapt).
Gut, wir haben jetzt ein SMARTes Quartalsziel. Nun lass uns mit der Umsetzung beginnen?! Nein – immer noch nicht.
Vorher werden wir in den Quartalszyklus hineinzoomen und bemerken, das Muster wiederholt sich. Die Teams unterteilen sich den Quartalszyklus in etwa vier bis acht Zwischenziele. Und auch hier gilt wie schon oben:
- Wie diese Ziele heißen, ist nicht wichtig. In SCRUM-Teams reden wir hier wahrscheinlich von Sprintzielen.
- Die Ziele sind konkret formuliert.
- Die Ziele werden gemeinsam mit allen relevanten Stakeholdern und jedenfalls mit dem Umsetzerinnen ausverhandelt und nicht vorgesetzt.
- Die konkreten Ziele umspannen nur einen Zeitrahmen, der auch vorstellbar und mit einigermaßen Sicherheit planbar ist. Das bedeutet zum Beispiel, dass das Ziel für den kommenden 2-Wochen-Zeitraum (Sprint) sehr klar definiert ist. Für die darauffolgenden Sprints können möglicherweise auch schon klare Bilder bestehen und danach werden die Ziele immer vager und weniger detailliert ausfallen.
Fein. Jetzt haben wir Ziele in der Größenordnung von Wochen. Nun lasst uns endlich anfangen! – Nein! Noch immer nicht.
Bevor alle in alle Richtungen verschwinden und mit der Umsetzung beginnen, wird das Agile Team das Ziel für den kommenden Tag besprechen. “Was wollen wir uns berichten können, wenn wir uns in 24h hier wieder treffen?” Und wenn das klar ist: ”Was müssen wir dafür tun?” und “Wer muss wann mit wem zusammenarbeiten?”.
Diese Zielbesprechung wird in agilen Teams täglich wiederholt. Und beginnt typischerweise mit einer kurzen Rückschau, was bis jetzt geplant war und was tatsächlich erreicht wurde. Dieses gegenseitige Informieren erhöht die Transparenz innerhalb des Teams. Danach werden wieder die kommenden 24h geplant. Das erhöht die Fähigkeit zur Selbstorganisation.
Wichtig bei all den oben beschriebenen Beispielen ist, es geht nicht darum, dass die Zeiteinheiten genau so sein müssen. Es können noch mehrere Zielebenen dazwischen sein oder vielleicht eine Ebene weggelassen werden. Worauf es ankommt, ist die Verknüpfung dieser Ebenen. Das bedeutet, dass sich ein Ziel in einer Zeitskala von Ziel in der längeren Zeitskala ableitet. Des Weiteren gilt, je kürzer die Zeitskala, umso näher die betrachtete Zukunft. Das Tagesziel gilt wirklich nur für die nächsten 24h, während die Vision oder der Purpose einer Organisation viele Jahre Gültigkeit haben kann.
Prinzip 10: Persönliche Beziehungen
Achtsame Gestaltung des Miteinanders
Im Umgang mit Maschinen gehen wir davon aus, dass äußere Reize eine genau vorhersehbare Wirkung erzeugen. Die sprichwörtlich gut geölte Maschine läuft – und das jeden Tag gleich.
Menschen sind (Gott sei dank) keine Maschinen und kein Tag ist wie der andere. Jedes Teammitglied bringt jede Menge eigenen Kontext mit in die Arbeit. Seien es banale Erlebnisse auf dem Weg zur Arbeit, frühkindliche Prägungen oder der aktuelle körperliche Zustand – fühlst du dich topfit, müde und abgeschlagen oder hast du gar Zahnschmerzen?
Neben den individuellen Kontexten gibt es noch zwischenmenschliche Dynamiken. Mit einer Person kann man gut, mit einer anderen hakt es in der Kommunikation. Und das, obwohl beide fachlich gleich kompetent sind.
All das ist da! Es befindet sich mit uns im Raum und beeinflusst die Produktivität und die Fähigkeit zum Finden von kreativen Lösungen zu einem Problem.
Das 10. Prinzip soll dazu ermutigen:
- Menschliche Emotionalität als wertvolle Information zu betrachten
- Den psychosozialen Raum, die Arbeitskultur, aktiv zu gestalten
- Konflikte nicht scheuen, sondern aktiv zu begleiten
Die Ausprägungen in der Praxis sind dabei so verschieden wie Menschen, Teams und Kulturen eben sind. Wir wollen hier keinesfalls Vorschreibungen machen, sondern Mut machen auch auf die Dinge zu achten, die nicht direkt im Zentrum des Tätigkeitsbereiches liegen. Und, keine Angst, niemand muss den eigenen Namen tanzen.
Beispielhaft möchte ich hier zwei, drei Praktiken beschreiben. Für weitere Gespräche dazu oder Fragen oder Ideen freuen wir uns natürlich, wenn du uns ansprichst.
Check-In
Viele Teams beginnen ihre Meetings mit einer “Check-In”-Runde. Eine kurze Achtsamkeitsübung, in der jede Person eingeladen ist, kurz anzusprechen, was sie von ihrem inneren Zustand mit der Gruppe teilen möchte. Wie geht es mir gerade, was ist in meinem Kopf, was habe ich heute schon erlebt, was möchte ich aussprechen, sodass ich mich für das kommende Meeting gut fokussieren kann?
Spannungen
Wir selber, Gregor und ich, führen regelmäßige Spannungsmeetings durch. Wobei Meeting suggeriert an dieser Stelle wahrscheinlich ein falsches Bild. Wir sitzen in keinem Meetingraum, sondern verbinden dieses Meeting mit einem ausgedehnten Waldspaziergang von gut 90 – 120 Minuten. Jeder von uns ist dabei angehalten in sich zu gehen und jede – noch so kleine – Irritation, Spannung, Ärger oder Freude aus der jüngeren Vergangenheit mitzuteilen. In einem relativ genau festgelegten Protokoll (siehe OS – Wie wir tun) wird diese Spannung besprochen und konstruktiv und wertschätzend bearbeitet. Sollte es einmal eine größere Sache sein, dann gönnen wir uns eine externe Begleitung – es lohnt sich!
Unsere Eigenbeobachtung aus dieser Praxis ist bis jetzt unter anderem:
- Es fällt jedem von uns immer wieder schwer zu beginnen und Themen auf den Tisch zu bringen. Das braucht Mut und Zuversicht.
- Die gefühlte Größe des Themas hat nichts – wirklich gar nichts – mit dem folgenden Erkenntnisgewinn zu tun. Es sind oft die kleinsten Steine des Anstoßes –Ja, genau die, bei denen man sich ein bisschen schämt, es überhaupt anzusprechen – die Überraschendes zutage fördern.
- Man lernt über sich selbst mindestens genauso viel, wie über den anderen. Das fördert Selbstempathie sowie Empathie für das Gegenüber. Davon kannst du später, wenn es wieder stressig wird, nicht genug haben.
- Nachher ist es immer besser als vorher.
Raum
Ich weiß, ich habe oben geschrieben “Psychosozialer Raum”. Aber warum nicht auch den gemeinsamen architektonischen Raum (zum Beispiel die Meetingräume) so gestalten, dass er signalisiert: Wir sind uns nicht egal. Dazu braucht es meist nicht viel.
Sind die verwischten Grau- und Grüntöne auf dem Whiteboard wirklich noch wichtig oder kann das weg? Die vollgeschriebenen Papierrollen der Flipchart lugen hinter dem Medientisch hervor, wer nimmt sich endlich ein Herz und entsorgt diese? Die Bedienungs- und Montageanleitung des vorvorletzten Beamers auf der Fensterbank. Die grauen Plastikteile, Schrauben und Kabel daneben: wer weiß noch, wofür das einmal gut war?
Die neuen Prinzipien im Coaching
Wir haben die neuen bereits etliche Male bei Trainings und Coachings erprobt. Wie gut kommen sie an? Werden sie gut verstanden oder sorgen sie eher für Verwirrung?
Die Rückmeldungen, die wir bis jetzt bekommen haben, sind sehr positiv. Vor allem das Prinzip der persönlichen Beziehungen scheint eine echte Lücke zu schließen. Besonders freut mich natürlich hier, dass ich schon beobachten konnte, wie durch dieses Prinzip Gespräche in Gang kamen, die einen Unterschied gemacht haben.
Wir würden uns sehr über deine Meinung freuen. Was hältst du von den Neuzugängen?
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