Die Sprint Retrospektive in Scrum und das Governance Meeting aus Holacracy weisen eine Reihe von Parallelen auf. In diesem Blogbeitrag berichte ich von meinem Experiment, eine Scrum Overall Retrospective mit dem Integrative Decision Making Process aus dem Holacracy Governance Meeting zu strukturieren.
Scrum Retrospektive und Holacracy Governance Meeting ähneln sich
Schon auf der Ebene eines einzelnen Teams fällt es meiner Erfahrung nach den Teilnehmern oft schwer, aus den in der Retrospektive diskutierten Problemen konkrete Maßnahmen zur Verbesserung des gemeinsamen Arbeitens abzuleiten uns sich zu diesen Maßnahmen zu bekennen (Commitment).
Und einen Stock höher, also in einer teamübergreifenden Retrospektive in einem Umfeld mit mehreren Scrum-Teams (Overall Retrospective), wird es nicht einfacher, ein solches Commitment zu erzielen. Zu oft passiert es, dass Lösungsideen so lange zerredet werden, bis nichts mehr davon übrig bleibt.
Es wäre also günstig, in der Retrospektive ein Entscheidungsverfahren für den Beschluss von Maßnahmen anzuwenden, das Experimente begünstigt, also die Veränderung der gemeinsamen Arbeitsweise in kleinen Schritten, basierend auf Versuch und Irrtum.
Und hier kommt das Governance Meeting aus Holacracy ins Spiel:
- In der Scrum Overall Retrospective wie im Holacracy Governance Meeting eines Kreises in Holacracy nehmen Delegierte In der Retrospektive sind es Delegierte der einzelnen Teams, im Governance Meeting (neben anderen) Rep Links aus den untergeordneten Kreisen.
- In beiden Meetings arbeiten die Teilnehmer an konkreten Veränderungen des gemeinsamen Prozesses.
- Beide Meetings zielen darauf ab, den Prozess iterativ in kleinen Schritten, auf Grund konkreter Notwendigkeiten anzupassen.
- Sowohl Scrum als auch Holacracy betonen den experimentellen Charakter dieser Prozessveränderungen.
Ablauf eines Holacracy Governance Meetings
Eine prägnante Beschreibung, wie ein Governance Meeting in Holacracy abläuft, findet man auf der Website von Holacracy.org. Ich verzichte daher an dieser Stelle, den grundsätzlichen Ablauf zu beschreiben.
Dafür stelle ich hier den leicht angepassten Ablauf an Hand der Flip Charts vor, die ich in meinem Experiment (siehe weiter unten) verwendet habe.
Der Gesamtablauf
Abbildung 1 zeigt den gesamten Ablauf der Scrum Overall Retrospective. Im Wesentlichen entspricht er jenem des Holacracy Governance Meetings. Im Zentrum des Ablaufs steht die Bearbeitung der Themen mit Hilfe der Integrativen Entscheidungsfindung (Integrative Decision Making Process, IDMP).
Abbildung 1: Gesamtablauf der Scrum Retrospektive
Die integrative Entscheidungsfindung (Integrative Decision Making Process, IDMP)
Abbildung 2 zeigt den Ablauf der Integrativen Entscheidungsfindung, mit dem jedes Thema der Scrum Overall Retrospective bearbeitet wird. Der Ablauf entspricht im Wesentlichen jenem im Holacracy Governance Meeting. Genauer ansehen werden wir uns im Folgenden noch den Schritt 5 daraus, nämlich die Einwandprüfung.
Abbildung 2: Ablauf der Integrativen Entscheidungsfindung
Die Einwandprüfung im IDMP
Abbildung 3 zeigt die Einwandprüfung, wie ich sie in meinem Experiment verwendet habe. Sie ist gegenüber der ursprünglichen Einwandprüfung aus Holacracy (siehe Rubrik Download auf dieser Seite) in einem Aspekt angepasst, um dem Kontext der Scrum Overall Retrospective Rechnung zu tragen:
- Die letzte Prüfungsfrage fragt den Einwandgeber, ober er durch den Lösungsvorschlag unmittelbar betroffen wäre; in Holacracy hingegen wird gefragt, ob der Vorschlag eine der Rollen des Einwandgebers einschränken würde.
Abbildung 3: Einwandprüfung im IDMP
Konkretes Setting meines Experiments
Mein Experiment habe ich für eine Overall Retrospektive in einem Projekt eingesetzt, in dem vier Entwicklungsteams und ein Team von Requirements Engineers ein gemeinsames Produkt entwickeln.
Das Umfeld könnte man als schwierig bezeichnen: Im Projekt herrscht großer Zeitdruck, die Teams wurden in kurzer Zeit formiert und befinden sich noch am Anfang ihrer Teamentwicklung, in den einzelnen Teams herrschen sehr unterschiedliche Teamkulturen.
Die Besetzung der Scrum Overall Retrospective erfolgt so, dass aus jedem Team für die Retrospektive zwei Vertreter gewählt und entsendet werden. Insgesamt bestreiten also 10 Teilnehmer die Retrospektive.
Für die Abhaltung der Overall Retrospective steht eine Timebox von 90 Minuten zur Verfügung.
Meine Rolle im Projekt ist jene eines Agile Coaches, der allen Teams für punktuelle Coachings zur Verfügung steht. Im Experiment habe ich die Rollen des Facilitator (Moderator) und Secretary (Schriftführer) wahrgenommen.
Erkenntnisse aus dem Experiment
Ich fasse hier zunächst die Aussagen der Teilnehmer zusammen, die ich am Ende der Retrospektive (vergleiche Abbildung 1, letzter Agendapunkt) abgefragt habe. Anschließend fasse ich das Experiment aus meiner Sicht zusammen.
Positive Teilnehmerstimmen
- Vorgehen im Sinne eines Vorschlags wird wahrscheinlicher
- Entscheidungen im Sinne von Ausprobieren werden begünstigt
- Viele Entscheidungen
- Jeder kann seine Sachen sagen, kommt fair zu Wort
- Vorschlaggeber haben Entscheidungsfreiheit, Vorschlag anzupassen oder auch nicht
- Bei größeren Themen fein, bei kleineren Themen viel Overhead
- Gutes Format für die vielen Themen
- Stringente Moderation war gut
Negative Teilnehmerstimmen
- Nachträgliche Gedanken in der Bewertungsrunde kommen zu spät
- Zu strukturiert, bei Reaktionsrunde ist Zeitpunkt meines Drankommens wesentlich (später ist besser, da ich schon andere Reaktionen hören konnte)
- Qualität der Entscheidungen (wenig Platz für Ausdiskutieren)
- Einwandbehandlung führt praktisch immer zu einem Ausscheiden des Einwands
Persönliches Fazit
Die Teilnehmer haben sich überraschend gut in dem doch recht restriktiv gelenkten Prozess zurecht gefunden, ich hätte da und dort mit Widerstand gerechnet („der Moderator lässt meinen Betrag nicht zu“).
Die Fragen, ob ein begründeter Einwand vorliegt, ist sehr mächtig; es war interessant zu beobachten, dass nach sehr kurzer Zeit die Teilnehmer ihre Einwände schon selbst im Stillen aussortiert haben, ohne dass ich als Moderator die Einwandprüfung durchführen musste.
Der Vorschlaggeber hat eine hohe Verantwortung gegenüber den anderen Teilnehmern; es liegt an ihm, Inputs der anderen aufzunehmen und zu integrieren. Im Experiment haben sich die Vorschlaggeber im Wesentlichen entschlossen, beim ursprünglich formulierten Vorschlag zu bleiben. Es war jedoch augenscheinlich, dass sich die Vorschlaggeber intensiv mit den Inputs der anderen Teilnehmer auseinandergesetzt haben.
Dass man nur einmal reihum die Chance hat, seine Bewertung abzugeben (vergleiche Abbildung 2, Schritt 3: Reaktionsrunde), war für einige Teilnehmer schwierig, da einige Male erst nach Hörung aller Reaktionen die eigene Bewertung final zu Stande kam.
Für die kurze zur Verfügung stehende Zeit und die große Teilnehmerzahl wurden sehr viele und sehr konkrete Maßnahmen festgelegt. Augenscheinlich waren alle Teilnehmer mit den beschlossenen Maßnahmen einverstanden.
Ich hatte in der Retrospektive sowohl die Rolle Facilitator (Moderator) als auch die Rolle Secretary (Schriftführer) übernommen. Das war äußerst fordernd, zukünftig werde ich versuchen, jemandem aus dem Kreis der Teilnehmer für die Rolle des Secretary zu gewinnen.
Zusammenfassend war das Experiment aus meiner Sicht sehr erfolgreich. Meine Vermutung, dass die Anwendung der Integrativen Entscheidungsfindung Experimente begünstigt, hat sich vollauf bestätigt. Besonders gefreut hat mich, dass die Teilnehmer sich in dem restriktiv moderierten Prozess sehr schnell zurecht gefunden haben. Die Teilnehmerstimmen insgesamt machen Mut, die Scrum Overall Retrospective auch in Zukunft mit Hilfe des Integrative Decision Making Process (IDMP) zu strukturieren.
Was sind Deine Erfahrungen mit der Vereinbarung von Maßnahmen in Scrum Retrospektiven? Welche Entscheidungsverfahren wendest Du an? Ich freue mich auf Deine Antworten als Kommentar in diesem Blog!
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1 Kommentar
Danke für den interessanter Beitrag! Prima Tipp.